Rue intérieure
Rue intérieure in der Kalkbreite © Martin Stollenwerk

Problem

Große Gebäude mit tiefem Gebäudevolumen weisen häufig schlecht belichtete und wenig attraktive Innenzonen auf. Bei großen Projekten werden zumeist einzelne Häuser aneinandergereiht, deren Wohnungen häufig nur über vertikale Treppenhäuser erschlossen werden. Die Kommunikation zwischen den Bewohner:innen im Gesamtprojekt ist dadurch meist eingeschränkt. Wie lassen sich unattraktive Innenzonen gestalten und nutzen, um die räumliche Qualität zu verbessern, die Kommunikation zwischen der Bewohnerschaft zu fördern und unterschiedliche Nutzungen miteinander zu verbinden?

Allgemeine Beschreibung

Neue Formen des Cohousing weisen häufig große Gebäudevolumen und ein vielseitiges Raumprogramm auf, die durch eine interne räumliche Verbindung, die Rue Intérieure, erschlossen werden (Genossenschaft Kalkbreite 2014, S. 8). Die Rue Intérieure ist eine innerhalb eines Gebäudes liegende horizontale Verbindung zwischen vertikalen Erschliessungssystemen, zumeist Treppenhäusern. Bereits Le Corbusier hat die Rue Intérieure in seinen großen Wohngebäuden der Nachkriegsmoderne, den sogenannten “Wohnmaschinen”, als ein zentrales gemeinschaftsprägendes Element etabliert, das vielfach nachgeahmt und variiert wurde. Die Rue Intérieure ist meist breiter als nötig, ersetzt die traditionellen Verteilerkorridore von Wohngebäuden (Pié et al. 2020, S. 25) und bietet damit einen Raum für private und halböffentliche Begegnungen der Bewohner:innen. Sie wird häufig mit anderen Nutzungs- oder Sharing-Angeboten kombiniert und fördert dadurch den nachbarschaftlichen Austausch. Darüber hinaus ermöglicht die Rue Intérieure eine Kombination verschiedener Grundrisstypen (ARCH+ features 77 2018) und die Kombinierbarkeit mit vertikalen Atrien.

Beispiele

Im Projekt Kalkbreite fungiert die Rue Intérieure, eine interne Erschließungskaskade, als zentrale Arterie des Gebäudes und schafft Verbindungen zwischen verschiedenen Einheiten wie diversen Gemeinschaftsräumen sowie den gewerblichen und kulturellen Räumen im Gebäude. Sie bildet eine strukturelle Einheit aus den sieben Treppenhäusern (Schindler 2014, S. 31). Die Rue Intérieure ist, ausgehend von der Halle, ein Begegnungs-, Austausch- und Aufenthaltsort (Genossenschaft Kalkbreite o.J.), der verschiedene Nutzungen wie eine Tauschbörse bietet. Sie ist ein Korridor, der alle Wohnungen, Gemeinschaftsräume und Dachgärten miteinander verbindet und abwechselnd auf verschiedenen Etagen (Genossenschaft Kalkbreite 2014, S. 8) durch das energie- und form-effiziente und damit sehr tiefe Gebäude verläuft. Bewohner:innen und Gäste können der Rue Intérieure in einer Schleife durch das gesamte Gebäude folgen. Diese interne Straße ist 2,5 Meter breit, dient auch als Notausgang und hat eine anspruchsvolle Farbgestaltung, die ein attraktives visuelles Erlebnis schafft und die Leitfunktion unterstützt. In der modern interpretierten Passage demonstrieren vier Lichtschächte und bewusst gesetzte Ein- und Ausblicke in die Wohnungen eine gewisse Offenheit und schaffen Nachbarschaften. Die Bewohner:innen werden herausgefordert, sich mit der Gemeinschaft zu beschäftigen.

Im Projekt IBeB wird die Rue Intérieure durch Tageslichthöfe strukturiert und beleuchtet. Der breite Korridor bietet Raum für vielfältige Nutzungen: neben Sitzbänken können gemeinsame Esstafeln aufgestellt werden, er kann als Bewegungsraum für Sport interpretiert oder als Freifläche für künstlerische Projekte angeeignet werden. Kleinere gärtnerische Projekte finden in den Lichthöfen Platz. Somit werden sich halböffentliche Bereiche angeeignet und mit dem Privaten verzahnt.

Erkenntnisse und Synergien

Die Rue Intérieure ist ein Verbindungselement, das eine räumlich attraktive Begegnungszone  bildet. Die Umwandlung des Korridors von einem bloßen Zugang zu einem Raum der Begegnung und Interaktion ist sowohl kosteneffizient als auch transformativ. Darüber hinaus erlaubt die Rue Intérieure eine optimale Nutzung tiefer Gebäude, ermöglicht eine neue Form und Qualität des Wohnens sowie des gemeinsamen Arbeitens.

Die Rue Intérieure zeigt, wie energie- und kosteneffiziente, kompakte Gebäude für einen vielfältigen Nutzungsmix genutzt werden können; sie zeigt, wie wichtig es ist, Räume ästhetisch zu gestalten, die eine Mehrfachnutzung ermöglichen: nicht nur Zugang, sondern auch Begegnung.

Quellen

Genossenschaft Kalkbreite (2014): Die Kalkbreite – Ein neues Stück Stadt: Projektdokumentation Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite. Genossenschaft Kalkbreite: Zürich.  Abgerufen von https://www.kalkbreite.net/wp_website/wp-content/uploads/2018/12/Projektdoku_2014.pdf

Genossenschaft Kalkbreite (o.J.): General Rooms. Abgerufen am 11.02.2021 von https://www.kalkbreite.net/kalkbreite/gemeinsam-nutzen/allgemeine-raeume/

Pié, R., Rosa, C., Vilanova, J.M., Sabaté, J. & Porfido, E. (Hrsg.) (2020): TOURISCAPE2 – Transversal Tourism and LandscapeInternational Scientific ConferenceBarcelona, 5th-6th November 2020. UPCommons: Barcelona. Abgerufen von https://upcommons.upc.edu/bitstream/handle/2117/334803/9788498808551.pdf?sequence=5&isAllowed=y 

Schindler, S. (2014): Kalkbreite. Bauwelt: Berlin. Abgerufen von https://www.bauwelt.de/dl/805493/bw_2014_39_0024-0031.pdf

Unbekannte:r Autor:in (2018): ARCH+ features 77: Ökonomien, Biografien, Situationen. Abgerufen am 02.03.2021 von https://archplus.net/de/features/17360-arch-features-77-konomien-biografien-situationen/

Ziegler, F. (2019): IBeB: Integratives Bauprojekt am ehemaligen Blumengroßmarkt. In: DASH|Delft Architectural Studies on Housing Nr. 15, 146-155. Abgerufen von https://journals.open.tudelft.nl/dash/article/view/5104/4651